Setzt Karl Lauterbach Jens Spahns desaströsen Aktionismus fort? Datenschützer fordern überlegtes Vorgehen bei der elektronischen Patientenakte

Eine gemeinsame Stellungnahme von Bündnis für Datenschutz und Schweigepflicht, Deutsches Psychotherapeuten-Netzwerk, dieDatenschützer Rhein-Main, Gen-ethisches Netzwerk, Labournet, Patientenrechte und Datenschutz e.V. und WISPA Westfälische Initiative zum Schutz von Patientendaten:


Mit einer Gesetzes-Flut versuchte Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), im Eiltempo die zentrale Digitalisierung des Gesundheitswesens zu erzwingen. Herzstück davon ist die elektronische Patientenakte ePA, welche die Krankenkassen ihren Mitgliedern seit dem 01.01.2021 anbieten müssen[1]. 

Die  Patientensicherheit (bzw. die Sicherheit der Gesundheits- und Behandlungsdaten) sieht der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber bei der ePA allerdings nicht gewährleistet [2]. Und die Akzeptanz bei den Versicherten liegt nach  fast einem Jahr noch immer im Promille-Bereich. So meldete das ARD-Magazins plusminus [3] am 18.08.2021 (unwidersprochen von Gematik und Krankenkassen): „In Deutschland haben sich bisher erst 260.000 Versicherte für die neue Patientenakte angemeldet“. Das sind weniger  als  0,5 % der rund 73 Millionen gesetzlich Krankenversicherten in der BRD. 

Auch das eRezept und die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sollten gemäß Spahns Fristsetzung bereits in Betrieb sein. Sie erwiesen sich jedoch als fehleranfällig, so dass ihre Einführung verschoben wurde.

Vor wenigen Tagen haben die Spitzenverbände von Ärzt*innen, Apotheker*innen und Krankenhäusern in  einer gemeinsamen Stellungnahme  [4] “erhebliche Zweifel” geäußert, ob  die Schnelligkeit bei der  Digitalisierung des Gesundheitswesens  sachgerecht ist. Am Beispiel  der Einführung des eRezepts stellen sie  fest: “Fehlerhaft übermittelte  eRezepte sind nicht nur eine Belastung  für Ärzte, Zahnärzte und Apotheken, sie stellen insbesondere eine  Gefährdung der  Patientensicherheit dar.” Auch IT-Expert*innen äußerten Bedenken gegen die Strategie von Spahn und Lauterbach [5].

Was  Erwartungen an den neuen Bundesgesundheitsminister  Karl Lauterbach  angeht, hilft ein Blick in den  Ampel-Koalitionsvertrag, den Lauterbach  mit ausgehandelt hat. Zur  Digitalisierung im Gesundheitswesen steht  dort: “Alle Versicherten bekommen DSGVO-konform eine elektronische  Patientenakte zur Verfügung gestellt; ihre Nutzung ist freiwillig  (opt-out). Die gematik bauen wir  zu einer digitalen Gesundheitsagentur aus.” 

Opt-Out  bedeutet jedoch gerade das Gegenteil von Freiwilligkeit: Jeder Mensch  bekommt ohne eigene Willensentscheidung eine elektronische  Patientenakte  (ePA) und kann dies lediglich im Nachhinein durch  Widerspruch (opt-out)  korrigieren. 

Sollte  dafür das gleiche Verfahren wie bei der elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) in Österreich [6] gewählt werden, müssten Versicherte dafür einen erheblichen Aufwand betreiben.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: “Zudem bringen wir ein Registergesetz und ein  Gesundheitsdatennutzungsgesetz zur besseren wissenschaftlichen Nutzung in Einklang mit der DSGVO auf den Weg und bauen eine  dezentrale  Forschungsdateninfrastruktur auf.” Damit  knüpft der Koalitionsvertrag an ein Gutachten des Sachverständigenrates für Gesundheit (SVR) an, das forderte, alle Gesundheitsdaten der  gesetzlich Versicherten für die Forschung freizugeben, ohne sie vorher zu fragen [7]. 

Die Digitalisierung beschleunigt zudem die weiter gehende Orientierung des Gesundheitssystems an wirtschaftlichen Zielen. Bereits die Einführung der  Fallpauschalen in der medizinischen Kostenerstattung führte zur  Gewinnorientierung im Gesundheitswesen und damit zur  Privatisierung der Krankenhäuser, zu Schließungen, sowie zum  Pflegenotstand. Nun bedroht der grob fahrlässige Umgang mit den Gesundheitsdaten die Schweigepflicht von Psychotherapeut*innen und Ärzt*innen. 

Die Digitalisierungspolitik der früheren Bundesgesundheitsminister kann kein Vorbild sein. Weder den Versicherten noch den Ärzt*innen oder Krankenhäusern ist damit  gedient, wenn sie ungeprüft und unhinterfragt fortgesetzt wird. Notwendig ist vielmehr Entschleunigung und eine sachliche  Bestandsaufnahme von Bedarf, Kosten und Nutzen.

Die unterzeichnenden Organisationen fordern daher den neuen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und die Bundestagsfraktionen von SPD, Grünen und FDP auf:

  • Beschließen Sie für alle neuen Anwendungen der Telematik-Infrastruktur eine Testphase von mindestens 12 Monaten. Sie ist mit einer großen Anzahl von freiwillig Teilnehmenden im realen Praxisbetrieb durchzuführen. Die Bewertung der Tests muss durch Ärzte- und Patientenvertreter*innen und Datenschützer*innen erfolgen.
  • Stellen Sie die bisherigen Vorschriften und technischen Einrichtungen auf den Prüfstand.
  • Freiwilligkeit der elektronische Gesundheitsakte (ePA) statt opt-out.
  • Freiwilligkeit der Nutzung der ePA auch für Behandler*innen, ohne Honorarabzüge
  • keine Honorarabzüge für an die TI nicht angeschlossene Behandler*innen
  • Schutz von Gesundheits- und Behandlungsdaten (Datensparsamkeit, Zweckbindung) statt Priorisierung der Datennutzung.

Anmerkungen:

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