Integrierte Versorgung

Integrierte Versorgung: Pläne (nicht nur) der Grünen, die kritisch hinterfragt werden müssen

Integrierte Versorgung (“Managed Care”) ist ein Modell, bei dem der “Versorgungsauftrag” für eine ganze Region oder für alle Versicherten mit bestimmten Diagnosen nicht mehr von den niedergelassenen Ärzten wahrgenommen wird, sondern von einer Management-Gesellschaft. Träger könnten private Versicherungen, Krankenkassen oder Klinik-Konzerne sein, aber auch Kassenärztliche Vereinigungen, privatwirtschaftliche Unternehmen oder beliebige andere Rechtsträger. Sie erhalten den Auftrag, für eine gesamte Region die ambulante Versorgung zu organisieren. 
Die Grünen fordern in ihrem Antrag vom 26.08.2020 im Bundestag, dass bis zum Jahr 2025 10 % der Bevölkerung in „Gesundheitsregionenverträgen“ mit integrierter Versorgung versorgt werden ( https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/218/1921881.pdf ). 
Möglichkeiten für die  Krankenkassen, solche Sonderverträge zu vereinbaren, stehen bereits im Gesetz (§ 140 a Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V)).
Am 24.03.2021 fand zur Integrierten Versorgung eine Anhörung im Gesundheitsausschuss statt (Video: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw12-pa-gesundheit-gesundheitsregionen-827276 , Protokoll der Sitzung: https://www.bundestag.de/resource/blob/844696/93a962ca07ab620b3b3e3f99ed2a6254/148_24-03-2021_Gesundheitsregionen-data.pdf ). Vertreter von Krankenkassen und Ärzteverbänden, die die Bundestagsfraktionen als Sachverständige eingeladen hatten, äußerten sich skeptisch, Vertreter der Gesundheitsindustrie hingegen lobten das Projekt. (Das Mitgliederverzeichnis des “Bundesverbands integrierte Versorgung” liest sich wie ein “Who is Who” der deutschen Gesundheitsindustrie: https://www.bmcev.de/der-bmc/mitgliederverzeichnis/ ).

Ärztemonopol oder Konzernmonopol?

Bisher sind die Krankenkassen in unserem Gesundheitssystem kaum mehr als Zahlstellen. Sie ziehen bei den Arbeitgebern die Beiträge ein und überweisen sie entsprechend der Abrechnungen an die Krankenhäuser und Ärzteverbände. Inhaltlichen Einfluss auf die Behandlungen haben die Kassen nach eigener Meinung zu wenig, vor allem nicht darauf, wer ihre Patienten behandeln darf und wer nicht. Diese Ohnmacht der Krankenkassen, freie Arztwahl der Patienten, ist ein großer Erfolg der Ärzteorganisation „Hartmannbund“, erzielt gegen Ende des 19. Jahrhunderts. 
Dass bei uns die Ärzte von den Krankenkassen bezahlt werden und nicht von den Patienten selbst (“Sachleistungsprinzip”), wird neuerdings von wirtschaftsorientierten Politikern unterstützt. Fachleute, die aus den USA nach Deutschland kommen, arbeiten hier für weniger Geld wegen niedrigerer Gesundheitskosten. Das ist ein Vorteil im internationalen Wettbewerb. Zentralisierung der Nachfrage bei den Krankenkassen hat die Marktmacht gegenüber den Ärzten verstärkt. Sie half, deren Preise zu drücken, sodass die Behandlungen hier billiger sind als in den USA. Nach Meinung führender Gesundheitsökonomen, wie Karl Lauterbach, schlummern aber noch erhebliche Reserven. Schließlich verdient bei uns ein Arzt durchschnittlich mehr als doppelt so viel wie ein Lehrer, in anderen Ländern mit vergleichbarer Lebenserwartung ist das anders. 

Wer gewährt Zugang zur medizinischen Versorgung? 

Derzeit sind Ärztinnen und Ärzte die zentrale Schaltstelle  (“gatekeeper”) für die Zuteilung medizinischer Leistungen. Ihre Anzahl wird über Kassenzulassungen (herunter-)reguliert. Vor allem im ländlichen Raum fehlen Ärzte, die Wartezeiten auf einen Termin sind lang. Aufgrund der älter werdenden Bewölkerung steigt zudem der Behandlungsbedarf. Patienten – soweit sie nicht an einem Disease-Management-Programm oder Hausarztvertrag teilnehmen – haben bislang freie Arztwahl. 
Diesem System bescheinigt der Antrag der Grünen (S. 2) eine “unzeitgemäße Aufgabenverteilung”, die “die Illusion einer ärztlichen Allzuständigkeit” vermittle.
Herzstück der vorgeschlagenen “integrierten Versorgung” ist folglich, dass die “gatekeeper”-Funktion dem Management des “managed care” übertragen werden soll. Dem liegt die Annahme zugrunde, man könne durch eine andere “Bewirtschaftung” ärztlicher Tätigkeit regional bestehende Mängel ausgleichen.
Ergänzend sollen ärztliche Tätigkeiten teilweise von anderen Gesundheitsberufen übernommen werden. Hierfür soll zunächst ein Master-Studiengang „Community Health  Nurse“ eingerichtet werden, ein „Gesundheitsberuferat“ hat die Aufgabe, weitere Bedarfe zu identifizieren.
Zur Umsetzung der integrierten Versorgung soll zunächst nur auf die Krankenkassen Druck ausgeübt werden. Sie müssen sich gegenüber Aufsichtsbehörden und anderen interessierten Institutionen und Gremien rechtfertigen, wenn sie keinen Gesundheitsregionenvertrag abschließen. Außerdem sind Anreizzahlungen aus dem Gesundheitsfonds angedacht.
Die freie Arztwahl der Versicherten solle gewahrt bleiben, wird im Antrag der Grünen (S. 6) beteuert, und auch die Beteiligung der Leistungserbringer sei freiwillig. Dies ist jedoch wenig glaubwürdig, weil es der inneren Logik der integrierten Versorgung widerspricht: Wenn die Versicherten weiterhin innerhalb und außerhalb der Gesundheitsregionenverträge ihre Ärzte frei wählen, anstatt sich auf die von der Managementgesellschaft zugewiesenen Untersuchungen und Behandlungen zu beschränken, hätte die neue Versorgungsform keinerlei Effekt. Daher ist zu erwarten, dass (wie bei der Anhörung im Gesundheitsausschuss mehrfach erwähnt) zumindest die behandlungsbedürftigsten 10% der Versicherten, die  50% der Kosten verursachen, in Gesundheitsregionenverträge gedrängt werden, um dort “effizient gemanaged” zu werden. Spätestens wenn die integrierte Versorgung das bisherige System ablösen soll, wird die Abschaffung der freien Arztwahl unumgänglich.
Es gibt im Gesundheitswesen keinen vernünftigen Menschen, der gegen integrierte Versorgung ist – also gegen das enge Verzahnen der verschiedenen Dienstleister bei der Behandlung. Allerdings ist die Art von integrierter Versorgung, die derzeit in Deutschland geplant ist, eine “von oben” gesteuerte, nach US-Vorbild kontrolliert von sog. Health Management Organizations (HMO) und Klinik-Konzernen.

Die Spur des Geldes

Ein häufig vorgebrachter Kritikpunkt am gegenwärtigen System sind die hohen Kosten. Der Großteil dieser Gelder wird derzeit für ärztliche Untersuchungen und Behandlungen aufgewendet. Daneben fließen auch Mittel aus Versichertenbeiträgen in die Digitalisierung des Gesundheitswesens (elektronische Gesundheitskarte (EGK), Telematikinfrastruktur, Gesundheits-Apps). Künftig soll mithilfe der integrierten Versorgung Gesundheit günstiger “produziert” werden, wie es mehrere Sachverständige bei der Anhörung im Gesundheitsausschuss ausdrückten. Nur kann die Versorgung aber gar nicht billiger werden, wenn zusätzlich Managementgesellschaften Mittel für ihren eigenen Betrieb und ggf. als Dividende für ihre Investoren entnehmen. Dieses Geld muss anderswo eingespart werden, was absehbar zu einer Verschlechterung der Versorgung führt. Beobachten lässt sich dieser Effekt bereits bei der Klinikprivatisierung. Beispielsweise hat der Klinik-Konzern Helios 2020 trotz Corona Gewinne eingefahren – und prompt seinen Anlegern höhere Dividenden in Aussicht gestellt. Zugleich ist in den Helios-Kliniken das Personal derart knapp, dass zeitweise keine Notfälle behandelt werden können. Und da beim Pflegepersonal nicht mehr gespart werden kann, sollen nun 10% der Arztstellen abgebaut werden (siehe: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/helios-kliniken-gewinn-corona-101.html
Aus ökonomischer Sicht ist diese Entwicklung nur folgerichtig und ebenso für eine ambulante Versorgung unter der Regie von privatwirtschaftlichen Investoren zu erwarten. 
Weiteres Anschauungsmaterial bietet das Gesundheitssystem in den USA, wo solche Modelle der “managed care” längst praktiziert werden. Hier müssen die so Versicherten um jede Behandlung kämpfen, (teure) Kontakte zwischen Ärzten und Patienten werden soweit wie irgend möglich vermieden. 
Zugleich geht es darum, die ambulante Patientenversorgung als Investitionssphäre für Banken, Versicherungen und Klinikkonzerne zu erschließen. Viele Krankenkassen sind längst eng verbunden mit Privatversicherungen. Sie wollen die Behandlung der Patienten steuern und Geld von der Ärzteschaft zu sich selbst umverteilen. Bei der „populationsorientierten integrierten Versorgung“ geht es um alle Versicherten ganzer Regionen, oder um Großgruppen, wie z.B. alle Dialyse-Patienten eines Bundeslandes. Ihre Versorgung soll komplett von einem Klinik-Konzern, oder einer Health-Management-Gesellschaft übernommen werden. Diese wird damit von einer Krankenkasse oder von einem Verband von Kassen beauftragt. Den Auftrag bekommt üblicherweise, wer verspricht, es billiger zu machen als bisher, billiger als andere. So soll der Wettbewerb mehrerer Anbieter von Gesundheitsmanagement gefördert werden, während die Krankenkassen als einheitlicher Nachfrageblock auftreten. 

EGK, Gesundheitstelematik und Datenschutz in der Integrierten Versorgung

Für die „integrierte Versorgung“ ist die EGK zentraler Baustein: Sie liefert die Information, zu welcher Versorgungsgruppe (Disease Management Programm, Hausarztvertrag, Gesundheitsregionenvertrag) ein Patient gehört. Jede Arztpraxis kann sofort sehen, ob sie ihn überhaupt behandeln darf, und gemäß welchem Programm sie ihn behandeln muss. Dazu dient das Versicherten-Stammdaten-Management, die erste und wichtigste Funktion der EGK. 
Damit die Health-Management-Gesellschaften die Behandlungen der einzelnen Versicherten detailliert steuern können, brauchen sie umfassenden Zugriff auf die Behandlungsdaten. Für die integrierte Versorgung muss es daher übergreifende  elektronische Gesundheits- oder Fallakten geben – im Besitz der Betreiber und mit Zugriffsmöglichkeit für alle Behandler und Case Manager. Wer als Patient an der integrierten Versorgung teilnimmt, muss also gegenüber der Health-Management-Gesellschaft auf sein Arztgeheimnis verzichten und ihr gestatten, eine digitale medizinische Akte über ihn zu führen.
(Auch bei früheren Managed-Care-Projekten („Hausarztverträge“) war der weitgehende Verzicht auf das Patientengeheimnis Voraussetzung, was zu Auseinandersetzungen mit dem damaligen Kieler Datenschutzbeauftragten Thilo Weichert führte.)
Sollte für die Speicherung der Managed-Care-Akten die Telematikinfrastruktur genutzt werden, würde dies eine enorme Erweiterung des Kreises der Zugriffsberechtigten bedeuten.  Grundsätzlich birgt aber jede Form der elektronischen Managed-Care-Akte mit einer Vielzahl an Zugriffsstellen und -berechtigten ein erhöhtes Datensicherheits- und Datenschutzrisiko.
Auch die gewünschten Kosten-Einsparungen setzen voraus, dass viele Seiten auf dieselben Behandlungsinformationen zugreifen können. Klinik-Konzerne und Health-Management-Gesellschaften wollen ihre ambulante Behandlung über Leitlinien steuern und auf dieser Grundlage verbindlich “qualitätssichern”. Zu diesem Zweck sollen sie laut Antrag der Grünen (S. 6) außerdem (also zu ihren “eigenen” Behandlungsakten) Zugriff auf die Forschungsdatenbank mit den personenbezogenen Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenkassen erhalten. Dies soll die Managementgesellschaften in die Lage versetzen, ihre Kostenziele zu erreichen und Verluste zu vermeiden. 
Daneben soll die erweiterte Datennutzung Einsparungen beim Personal ermöglichen. Ärzte sollen dann teilweise durch Telemetrie-Anwendungen (z. B. bei Herzproblemen) oder durch medizinische Callcenter (bei Bagatellerkrankungen) ersetzt werden

Ausblick

In der Gesundheitsindustrie finden zum Themenkreis Managed Care/Integrierte Versorgung Tagungen und Kongresse statt, es herrscht Goldgräberstimmung. Es geht um so viele Milliarden, dass die Kosten der EGK beinahe verhältnismäßig sind – sofern man Managed Care für sinnvoll hält. 
Das Modell der “Integrierten Versorgung” ist jedoch hinsichtlich der Versorgungsqualität, der Patientenrechte, des Datenschutzes sowie sozialökonomisch höchst problematisch. Seine Einführung ist weder im Interesse der Patienten, noch der Ärzte, sondern eröffnet vor allem der Gesundheitsindustrie neue Geschäftsfelder. In den USA hat man langjährige Erfahrung mit dem Wirken von Health-Management-Gesellschaften und weiß, wie recht John Ehrlichmann,  gesundheitspolitischer Berater von Präsident Nixon, hatte, als er vor 40 Jahren warnte: “The less care they give, the more money they make.”.

Patientenrechte und Datenschutz e.V.