Im November 2017 hat der Deutsche Ethikrat eine Stellungnahme zum Thema „Big Data und Gesundheit – Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung“ veröffentlicht. Auf etwa 200 Seiten wird – in einer Sprache, die NormalbürgerInnen nicht ohne weiteres spontan zugänglich ist – ein Angriff auf das vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 und 2 Grundgesetz entwickelte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Volkszählungsurteil vom 15.12.1983) vorgetragen.
Deutlich wird dies in Abschnitt 6 der Studie unter der Überschrift „Empfehlungen“ (ab S. 173). Dort wird ausgeführt: „ Der Deutsche Ethikrat empfiehlt ein Gestaltungs- und Regelungskonzept, das sich am zentralen Ziel der Datensouveränität orientiert. Unter Datensouveränität verstehen wir eine den Chancen und Risiken von Big Data angemessene verantwortliche informationelle Freiheitsgestaltung. Um dies zu gewährleisten, ist das traditionelle, primär auf die grundrechtlich geschützte informationelle Selbstbestimmung bezogene Datenschutzrecht weiterzuentwickeln und neu zu gestalten,
indem inhaltlich umfassende grundlegende normative Vorgaben einbezogen und instrumentell neue Wege beschritten werden. Um die Chancen, die Big Data im Gesundheitsbereich eröffnet, zu nutzen und zugleich den Risiken neuer Formen asymmetrischer Macht und dadurch bedingten Verlusten an individueller Selbstbestimmung sowie möglicher Benachteiligung und Diskriminierung wirksam entgegenzutreten, bedarf es hinreichender und geeigneter Schutzmechanismen und Gestaltungsstrategien. Wo sich tradierte Instrumente – wie die bislang gängige strikte Orientierung an Datensparsamkeit und enger Zweckbindung – als dysfunktional erweisen, müssen deshalb andere Möglichkeiten, individuelle Freiheit und Privatheit zu wahren und eine gerechte und solidarische Gesellschaft zu gestalten, in den Vordergrund treten. Der Deutsche Ethikrat empfiehlt ein anspruchsvolles, innovationsoffenes Regulierungs- und Gestaltungskonzept, das eine Vielzahl von Akteuren einbindet und dabei sowohl die Unterschiede zwischen als auch die zunehmende Annäherung und Überschneidung von zwei Sphären beachtet: der medizinbezogenen Forschung und klinischen Praxis einerseits und der heterogenen gesundheitsrelevanten Angebote des freien Marktes andererseits. Ein solches Konzept verlangt eine umfassende gesamtgesellschaftliche Anstrengung, die rechtliche wie außerrechtliche Elemente einbezieht, technische Weiterentwicklungen aufnimmt und deren grundrechtswahrende Verfügbarkeit für alle gesellschaftlichen Akteure gewährleistet.“
Kurz, knapp und unverblümt ausgedrückt: Der Deutsche Ethikrat empfiehlt hier, auch rechtlich der „normativen Macht des Faktischen“ nachzugeben und das Datenschutzrecht zugunsten der großen „Player“ im „BigData“-Geschäft zu verändern. Deren ökonomische Interessen sollen künftig auch rechtlich bestimmend sein wenn es um die Nutzung von Gesundheits- und Behandlungsdaten von Millionen Menschen geht.
Folgerichtig lautet auch die erste Empfehlung des Deutschen Ethikrats „Potenziale erschließen“: „Um die Potenziale von Big Data im Gesundheitsbeeich zu realisieren, ist eine möglichst reibungsfreie Kooperation zwischen zahlreichen Akteuren aus der klinischen Praxis, medizinbezogenen Grundlagenforschung, in gesundheitsrelevanten Feldern tätigen Unternehmen und individuellen Datengebern nötig. Sie sollte nicht nur auf die prospektive Sammlung und nachhaltige Bereitstellung von Datensätzen abzielen , sondern es auch ermöglichen, bereits vorhandene Datensätze aus Klinik und Forschung mit jeweils neu gewonnenen Daten in ethisch verantwortbarer Weise zu verknüpfen.“ (S. 174)
In dieser menschenverachtenden Sprache werden die Grundrechtsträger, d. h. die in Deutschland lebenden Menschen, zu „individuellen Datengebern“ reduziert.
Lediglich ein Mitglied des Ethikrats, Dr. med. Christiane Fischer, Mitglied von MEZIS e.V. – Mein Essen zahl ich selbst (Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte), hat in einem Sondervotum festgestellt: „Analog zur medizinischen Ethik, die den Nutzen für das Individuum in den Mittelpunkt stellt und nach dem Grundsatz nihil nocere die Schadensabwehr in jedem einzelnen Fall zur obersten Maxime macht, gilt es auch im Umgang mit den Chancen und Risiken großer Datenmengen, die unveräußerlichen Rechte des Individuums und seine Selbstbestimmung als Maßstab für gesellschaftlichen Fortschritt zu nehmen. Diese Rechte stehen nicht im Widerspruch zum Gemeinwohl, sie sind vielmehr für einen freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat konstitutiv. Die Bedürfnisse der (Gesundheits-)Wirtschaft nach immer umfassenderem Einblick in die Lebensäußerungen der Menschen sind dies nicht. Auf der anderen Seite birgt Big Data ein großes Potenzial. So können zum Beispiel Zusammenhänge von Gesundheit und ihren sozialen gesellschaftlichen Determinanten erkannt und neue Ansätze zur gesundheitsförderlichen Gestaltung verschiedenster Lebensbereiche erarbeitet werden. Aber Big Data erweist sich erst dann als nutzbringend für die Gesundheitsvorsorge und die Medizin, wenn der oder die Einzelne als EigentümerIn seiner/ihrer personenbezogenen Daten zu jedem Zeitpunkt entscheiden kann, wem er oder sie diese in welchem Umfang auch im Falle der Sekundärnutzung offenlegen will. Der Datenschutz bedarf daher einer präzisen gesetzlichen Regelung und das Bundesdatenschutzgesetz einer Präzisierung mit geeigneten Schutzmechanismen und Gestaltungsstrategien, also einer Bestätigung und Ausweitung, die Datensparsamkeit und Zweckbindung beinhalten. Diese funktionalen Instrumente gewährleisten einen Ausbau des Persönlichkeitsschutzes und des Datenschutzes und somit die Implementierung einer bestmöglichen Datensouveränität. Diese muss einen höheren Stellenwert auch gegenüber Forschungsinteressen behalten.“ (S. 186)