Es gibt ein Recht auf analoges Leben – aber kaum mehr in Dänemark, auch nicht im Gesundheitswesen

Dort ist die Zwangsdigitalisierung in allen Lebensbereichen – insbesondere im Kontakt mit staatlichen Stellen und damit auch im Gesundheitswesen – außerordentlich weit fortgeschritten. Darauf machen zwei Beiträge in der Frankfurter Rundschau vom 30.09.2022 aufmerksam.

Thomas Borchert, ein in Kopenhagen lebender deutscher Journalist, schildert in einem Beitrag unter dem Titel „Alles nur noch online in Dänemark“ seine Alltagserfahrungen:

  • “…obwohl „PostNord“ Briefe aus Papier schon lange nur noch einmal pro Woche bringt. Richtig gelesen: einmal die Woche. Natürlich ist der Blechbehälter mit unseren Namen immer leer. Niemand im durchdigitalisierten Dänemark bedient sich noch der altmodischen Mitteilungsform. Der Freundeskreis oder die Verwandtschaft nicht, die Unternehmen mit offenen Rechnungen auch nicht und erst recht nicht die Behörden. Diese verweigern auch die Entgegennahme von Papierpost. Seit 2014 schon sind alle Menschen ab ihrem 15. Lebensjahr beim Kontakt zum Staat zwangsdigitalisiert. Wir müssen einen elektronischen Briefkasten namens „Eboks“ unterhalten, sind gesetzlich verpflichtet, ihn in kurzen Abständen zu checken und unsere Anliegen stets digital in die andere Richtung zu schicken…“
  • Es gibt keine Sachbearbeiter:innen mit Namen und schon gar kein Gesicht für uns. Persönliche Kontakte sind nicht mehr vorgesehen. Zur Not kann man eine Hotline anrufen, in der Regel besetzt mit studentischen Hilfskräften, die nicht das Geringste vom Einzelfall wissen.Das reicht dicke, sagt der Staat, alle in unserem Land von überschaubarer Größe sind perfekt online verbunden…”
  • „…auch ohne Covid finde ich meine kompletten Gesundheitsdaten, von aktuellen Rezepten bis zu sämtlichen Diagnosen bei Praxis-Besuchen oder aus dem Krankenhaus der vergangenen zwei Jahrzehnte auf der Webseite „sundhed.dk.
  • Auf „borger.dk“ können wir zu jeder Tages- und Nachtzeit den Ersatzführerschein, einen Studienplatz oder Arbeitslosengeld beantragen. Wenn wir uns mittels MitID identifiziert haben.”
  • Ohne MitID (das ist die dänische lebenslange Personenkennziffer) geht gar nichts. Auch die Banken, Versicherungen, Arbeitgeber mit ihren Gehaltsabrechnungen und zunehmend mehr Einrichtungen verlangen die neue ‚Zwei-Stufen-Authentifizierung‘: Erst ruft man die jeweilige Internetseite auf und gibt ein erstes Passwort ein, um sich dann auf einem Smartphone oder Tablet über MitID-App mit einem zweiten Passwort den gewünschten Zugang zu verschaffen.“
  • Klar, dass davor unendlich viele kapitulieren und sich hilfesuchend an den total überlaufenen ‚Bürgerservice‘ wenden. Terminbestellung natürlich online. Will jemand auf analogem Kontakt mit den Behörden bestehen, ist ein Antrag auf Anerkennung als ‚IT-Invalide‘ zu stellen. Als anerkennenswerte Gründe gelten etwa Demenz, Obdachlosigkeit, Sprachprobleme, ‚fehlende Kompetenz zur Bedienung eines Computers‘. Die Befreiung vom digitalen Zwang im Behördenverkehr ändert nichts daran, dass etwa die Banken gnadenlos auf Online-Verkehr pochen.“

In einem Interview mit dem Titel Der digitale Expresszug wirft zu viele Menschen aberklärt die dänische Wissenschaftlerin Birgitte Arent Eiriksson u. a.:

  • „… dass wir so über unglaublich viele Daten der Bürger:,innen verfügen. Der Türöffner dafür ist die schon 1968 eingeführte Personennummer. Sie verschafft uns einzigartige Möglichkeiten zur Digitalisierung der Behördenarbeit.“
  • Generell herrscht in Dänemark großes Vertrauen in die Anwendung von Daten durch die Behörden. Obwohl Medien dauernd berichten, wie es wieder schiefgegangen ist. Bei uns hat es seit langem äußerst großzügige Möglichkeiten für die Behörden zum Einsammeln und Austausch persönlicher Daten gegeben. Daran waren die Bürger:‚innen schon vor der Digitalisierung gewöhnt…“
  • Auf die FrageSie schätzen, dass in diesem Prozess 20 bis 25 Prozent der Menschen abgehängt werden. Woher kommt diese hohe Zahl? erklärt sie: „Sie basierten auf offiziellen Schätzungen mit 17 bis 22 Prozent. Aber da haben sie die Dunkelziffer mit den am stärksten Betroffenen vergessen. Das sind diejenigen, die noch nicht mal wissen, dass der Staat sie zu einem elektronischen Briefkasten verpflichtet hat. Die Gruppe ist identisch mit den generell sozial Schwächsten in der Gesellschaft. Diese Menschen haben keinen Kontakt mit Behörden und ahnen nicht, dass ihnen zum Beispiel z.B. gerade ein Strafbescheid zugestellt worden ist.“
  • Ich bin bei den Dokumenten zur staatlichen Digitalisierung nicht ein einziges Mal auf den Begriff Rechtssicherheit gestoßen. Es geht immer nur um die Frage: Kannst du oder kannst du nicht? Das finde ich beunruhigend. Es gilt nach wie vor das Mantra, das die Digitalisierung so schnell wie möglich weitergehen muss. Man hält nicht inne, um die gemachten Erfahrungen auszuwerten. Dabei haben meine Untersuchungen und die vielen jüngsten Berichte Betroffener in der Zeitung „Politiken“ gezeigt, dass eigentlich viel mehr als die 25 Prozent digital Abgehängten mitunter enorme Probleme haben. Mich eingeschlossen…“
  • Meine wichtigste Empfehlung lautet: Digitale Selbstbedienung und der digitale Postverkehr mit Behörden müssen freiwillig sein. Ein großer Teil der Bevölkerung wünscht sich das, kombiniert mit mehr Hilfe bei Problemen.”

Und in Deutschland?

Eine eine in allen Lebensbereichen, gegenüber Behörden und Unternehmen nutzbare lebenslange Personenkennziffer gibt es nicht. Aber trotz verfassungs- und datenschutzrechtlicher Bedenken hat der Bundestag Ende Januar 2021 mit dem Registermodernisierungsgesetz (RegMoG) die Einführung einer übergreifenden Personenkennziffer („Identifikationsnummer“) auf Basis der Steuer-ID beschlossen. Die Behörden von Bund, Ländern und Kommunen sollen die Daten aller Bürger*innen künftig auf Basis einer gemeinsamen Kennziffer effizienter austauschen können. Künftig sollen (vorerst) 51 von rund 200 Behördenregistern diese Identifikationsnummer nutzen.

Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte hat das Bundesverfassungsgericht am 16.07.1969 (Aktenzeichen: 1 BvL 19/63) festgestellt: Mit der Menschenwürde wäre es nicht zu vereinbaren, wenn der Staat das Recht für sich in Anspruch nehmen könnte, den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren…“.

Im Zeitalter elektronischer Datenverarbeitung scheint das bei den politisch Verantwortlichen in Vergessenheit geraten zu sein. Wie anders ist es erklärbar, dass bereits seit einigen Jahren jeder Mensch von Geburt an mit

zum gläsernen Staatsbürger gemacht wird. Denn mit Hilfe dieser drei Identifikationsmerkmale können auch bereits jetzt schon nahezu alle Aktivitäten eines Menschen außerhalb seines allerprivatesten und intimsten Lebensbereiche ihm zugeordnet und ausgewertet werden.

 

 

 

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