Dr. Gertrud Demmler, Vorständin der Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK), veröffentlichte auf deren Website einen „Meinungs“-Beitrag mit der Überschrift „Krankenkassen müssen eine wichtige Rolle in einer Datenstrategie für das Gesundheitswesen spielen„. Darin diagnostiziert Dr. Demmler, ein schnellerer, modernerer und umfangreicherer Informationsfluss im Gesundheitswesen sei nötig. Er ermögliche Versorgungsforschung, eine individuelle Beratung der Versicherten, die Erforschung von Krankheiten und eine ziel- und zukunftsgerichtete Gesundheitspolitik. Bislang fehle jedoch eine umfassende nationale Digitalisierungs- und Datenstrategie, wie sie auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in einem Gutachten fordert.
Als „Treuhänder der Daten ihrer Versicherten“ falle den Krankenkassen dabei (quasi natürlicherweise) die Rolle zu, die Gesundheitsdaten der Versicherten zu verwahren und verwalten. Schließlich säßen die Kassen qua ihres Auftrags nach dem Sozialgesetzbuch an der Schnittstelle, an der die Daten über die Versorgungssituation der Versicherten zusammenfließen. Zudem seien sie die Betreiber der elektronischen Patientenakten. Außerdem betont Dr. Demmler, dass die Krankenkassen „keine Gewinnabsichten haben und laut ihrer Verfassung nur den Interessen der Versichertengemeinschaft verpflichtet sind. Auf dieser Basis garantieren sie einen verlässlichen, reglementierten und hohen Datenschutz der Versichertendaten“. Da die Krankenkassen offenbar kurz vor der Heiligsprechung stehen, sollte hier allerdings auch der Advocatus Diaboli zu Wort kommen: Ganz so selbstlos sind die Krankenkassen nicht. Vielmehr versuchen sie seit langem, zusätzliche Kompetenzen an Land zu ziehen (wie die Beratung der Versicherten oder das Mangement im Rahmen einer „integrierten Versorgung„), um so die Steuerung der medizinischen Behandlung zu übernehmen, die bisher Aufgabe der Ärzte und Patienten war. Auch wenn Krankenkassen keine Gewinne machen, so arbeiten sie doch hin auf Einsparungen, Vereinheitlichung der Behandlungen und das Sammeln von mehr Versichertendaten, um diese Ziele effizienter zu erreichen.
Für den schnellen Datenfluss von den Leistungserbringern zu den Krankenkassen kann laut Dr. Demmler der Dienst KIM (Kommunikation im Medizinwesen) der Telematikinfrastruktur dienen, über den ab September 2021 die elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen übermittelt werden. Er sei auch für die Übertragung von Diagnosedaten geeignet. Da stellt sich die Frage, warum die Krankenkassen Diagnosedaten brauchen. Die Abrechnungsdaten werden eigens über die Kassenärztlichen Vereinigungen geleitet und dort aggregiert, damit die Kassen Diagnosen nicht einzelnen Patienten zurechnen können. Das funktioniert aber seit Einführung der „Patientenquittung“ 2003 nicht mehr, denn seitdem erhalten die Krankenkassen die Abrechnungsdaten einschließlich der Diagnosen personenbezogen. Ob Dr. Demmler hier den Weg der Daten über die Kassenärztlichen Vereinigungen abkürzen möchte oder ob sie zusätzliche Diagnosedaten an die Krankenkassen übermittelt sehen will, wird aus ihrem Beitrag nicht deutlich.
Hinsichtlich der künftigen Entwicklung verweist Dr. Demmler auf den „europäischen Datenraum für Gesundheitsdaten“, der in den kommenden Jahren zumindest für elektronische Kurz-Patientenakten und eRezepte umgesetzt werden soll. Hier möchte Dr. Demmler für die Krankenkassen die Rolle des „Neutralen Datenmittlers“ reklamieren, wie sie im aktuellen Entwurf des „Data Governance Act“ des EU-Parlaments vorgesehen ist. Schließlich hätten die Krankenkassen bei der Bereitstellung der ePA bewiesen, dass sie einheitliche europäische Standards verlässlich implementieren könnten. Zusätzlich erforderlich sei ein gemeinsames Regelwerk und ein einheitliches Ethikverständnis: Die Ergebnisse der Datennutzung müssten den Europäer*innen zugute kommen und ein „Ausgleich zwischen den Interessen der Industrie und der Allgemeinheit“ gefunden werden. Letzteres mutet allerdings seltsam an: Wenn die Krankenkassen so sehr die Sachwalter der Interessen ihrer Versicherten sind, sollten sie deren Durchsetzung kompromisslos verfolgen – auch deren Interesse an der Erhaltung des Arztgeheimnisses und der Privatheit ihrer Gesundheitsdaten. Denn für die Datenwirtschaft sind Daten nur ein „Rohstoff“, für die Betroffenen kann ein ungewolltes Öffentlichwerden ihrer Erkrankungen, Behandlungen oder genetischen Informationen das Ende ihrer Karriere, sozialen Beziehungen oder Lebenschancen bedeuten. Daher ist es wichtig, dass das Prinzip der Datensparsamkeit und die informationelle Selbstbestimmung der gesetzlich Versicherten gewahrt werden, anstatt die Verfügung über derart persönliche Daten „Treuhändern“ welcher Art auch immer zu überlassen.