Diagnose: informationell erkrankt

Erweiterter Gesundheitsbegriff macht informationelle Verletzungen anschaulich

Dr. Stefan Streit, Hausarzt aus Köln, schlägt vor, das etablierte bio-psycho-soziale Krankheitsmodell um informationelle Erkrankungen zu ergänzen. Dieses erweiterte Krankheits- bzw. Gesundheitsverständnis basiert auf folgendem Grundgedanken: Gesundheitsinformationen sind derart untrennbar mit der Person verbunden, dass sie als Persönlichkeitsanteil und ihre Unversehrtheit als Teil der Gesundheit begriffen werden sollten. Oder wie Streit (in einem Kurzvortrag beim Jahreskongress des Chaos Computer Clubs 2018) formulierte: „Wenn das, was andere über mich wissen, mich beschädigt, dann bin ich informationell erkrankt.“

Dr. Streit wendet sich damit gegen aktuelle Bestrebungen, höchst persönliche Gesundheitsdaten vom unveräußerlichen Bestandteil der Privatsphäre zum bloßen „Eigentum“ der Patienten und damit zu einem Wirtschaftsgut herabzustufen.
Wie Patientendaten definiert werden, hat ganz konkrete Auswirkungen: Werden personenbezogene Daten als Teil der Persönlichkeitsphäre verstanden, so kann allein die betreffende Person darüber verfügen. Datenhalter sind dann verpflichtet, Daten auf Wunsch der Betroffenen zu löschen. Definiert man persönliche Daten hingegen als veräußerbaren Gegenstand, so sind sie Eigentum dessen, der sie – auf welchen Wegen auch immer – in seinen Besitz gebracht hat. Einen Anspruch auf Löschung oder Nicht-Verwertung können Betroffene dann nicht mehr durchsetzen.
Bisheriger Höhepunkt dieser Entwicklung ist Spahns „Digitale-Versorgung-Gesetz“, das vorsieht, die bei den Krankenkassen vorhandenen Gesundheitsdaten aller gesetzlich Versicherten für Forschungszwecke zu requirieren – ohne Einspruchsmöglichkeit der Betroffenen.

Neben rechtlichen Folgen haben Definitionen jedoch noch weit tiefgreifendere (aber schwer fassbare) Auswirkungen: Begriffe bestimmen, was überhaupt begreifbar, denkbar, mitteilbar ist. Nicht umsonst werden in George Orwells Roman „1984“ missliebige Begriffe mit Hilfe der Kunstsprache „Neusprech“ eliminiert: Es soll unmöglich werden, diese Dinge zu denken oder darüber zu sprechen.
Wenn wir also wollen, dass Arztgeheimnis, Privatsphäre und Datenschutz erhalten bleiben und nicht sang- und klanglos aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwinden, dürfen wir das Setzen und Ersetzen von Begriffen nicht Spahn und den Interessenverbänden der Datenverwerter überlassen.

Hierbei ist Streits Ansatz aufgrund seiner Anschaulichkeit hilfreich: Er macht informationelle Verletzungen sofort als solche erkennbar – und nicht erst Jahre später, wenn die negativen Folgen offensichtlich werden. Das rechtzeitige Erkennen informationeller Übergriffe aber ist die beste Voraussetzung für eine erfolgreiche Gegenwehr.

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